“Kompetenzorientierung”: Das neue goldene Kalb

Die Hamburger Reform-Pädagogen haben ein neues goldenes Kalb, um das sie tanzen: die sogenannte "Kompetenzorientierung".

Statt den Schulen endlich etwas Ruhe zu gönnen, um sich wieder auf ihre eigentlichen Aufgaben zu kümmern, hat Schulsenator Ties Rabe (SPD) zum Herbst 2012 eine neue groß angelegte Schulreform in Hamburg angeschoben. Das goldene Kalb, um das der Senator und die Mitarbeiter der Schulbehörde diesmal tanzen, heißt wissensunabhängige „Kompetenzen“: In der Sitzung der Deputation der Schulbehörde am 19. September 2012 haben die SPD-Deputierten mit ihrer absoluten Mehrheit in der Deputation der Schulbehörde dazu den sog. Orientierungsrahmen Schulqualität“ beschlossen.

Was sich hinter dem Zauberwort "Schulqualität" verbirgt, zeigt ein Blick in das Papier. Neben zahlreichen Dokumentationspflichten für Lehrkräfte und Schulleitungen bedeutet die geplante Einführung des „Orientierungsrahmens“ vor allem eine komplette Umstellung der Hamburger Schulen auf Kuschel- und Reformpädagogik und den Abschied von Wissen, Bildung und Leistung: So heißt es in der anliegenden Vorlage für die Kammern: „Die Vermittlung von Inhalten, Wissen, und Fähigkeiten wird grundsätzlich auf den Erwerb von Kompetenzen ausgerichtet“ und wird mit der „Herausforderung …der größeren Heterogenität von Lerngruppen“ begründet. „Kompetenzorientierung“, so heißt es in der Kammervorlage, bedeute ein „neues Verständnis von gutem Unterricht“.

In der Sache fühlt man sich beim Lesen der Papiere freilich eher an die Mind Control in „1984“ von George Orwell erinnert, denn der „Orientierungsrahmen“ liefert nicht nur die „Kriterien für die schulinterne Bewertung“ und für die Schulinspektion die „normative Grundlage, wenn sie die Arbeit einer Schule bewertet“ (Kammervorlage, S. 2,  3). Klartext redet die Behörde dann ähnlich dem Big Brother im „Leitfaden“ gleich auf Seite 1: frei Deutlicher wird die Behörde wenn es dort heißt:

„Der Leitfaden identifiziert diejenigen Kriterien, an denen sich „gute Schule“ in Hamburg messen lassen muss. Damit verpflichtet die BSB nicht nur die Schulen, sondern auch sich selbst und ihre Institute, also alle Akteure des Steuerungs-, Beratungs- und Unterstützungssystems, darauf, ihre Ressourcen primär für die Erreichung dieser Ziele einzusetzen.“

„…verpflichtet die BSB all diejenigen, die die Schulen begleiten und unterstützen, auf die Erreichung dieser Ziele: die Schulaufsicht, die Gestaltungsreferate in der BSB, die Aus- und Fortbildung, die Schulbegleitung, die Schulinspektion etc. Alle Beteiligten müssen sich daran messen lassen, ob sie die vorhandenen Ressourcen in den Dienst dieser Ziele stellen und das gewährleisten, was sie von den in Schule Verantwortlichen im Rahmen der Qualitätsentwicklung erwarten.“

Wie beliebig sich die Behörde künftig den Unterricht in Hamburger Schulen vorstellt, wird im eigentlichen „Orientierungsrahmen“ deutlich. Dort heißt es z. B.:

„Die Schülerinnen und Schüler… werden regelhaft in die Planung und Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen einbezogen und an inhaltlichen und methodischen Auswahlentscheidungen beteiligt.“ (a. a. O., S. 15)

„Pädagoginnen und Pädagogen… ermöglichen den Schülerinnen und Schülern Zugänge zu selbstdiagnostischen Verfahren, auch digitaler Art.“ (a. a. O., S. 20)

„Die Schülerinnen und Schüler erwerben an der Schule grundlegende überfachliche Kompetenzen im Sinne der Bildungspläne. Sie … können selbstständig systematisch und zielgerichtet lernen und Medien zur Beschaffung und Darstellung von Informationen nutzen (lernmethodische Kompetenzen).“ (a. a. O., S. 27)

Statt um Wissen und Bildungsinhalte soll es nur noch um Kompetenzen und Standards gehen:

„Die Schülerinnen und Schüler erwerben an der Schule fachliche Kompetenzen im Sinne der Bildungspläne. Sie … erreichen die in den Bildungsplänen gesetzten Standards.“ (a. a. O., S. 27)

Und was die Menschen in der Stadt von alledem halten sollen, hat sich die Behörde auch schon überlegt, wenn sie schließlich am Ende des „Orientierungsrahmens“ schreibt:

„Die Schülerinnen und Schüler, die Sorgeberechtigten und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Kooperationspartner beurteilen die Leistungen der Schule grundsätzlich positiv…“ (a. a. O., S. 28)

Wir können nur hoffen, das sich möglichst viele Schulen, Schulleitungen und Lehrkräfte in Form eines stillen Widerstandes diesem „Orientierungsrahmen“ entziehen und sich, so lange dieser Spuk dauert, auf einen guten, wissens-, bildungs- und fachorientierten Unterricht konzentrieren!

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Wenn Sie sich näher mit der Ideologie der „Kompetenzorientierung" befassen wollen, empfehlen wir Ihnen als Einstieg folgende Links:

 

Kompetenzen machen unmündig. Eine zusammenfassende Kritik zuhanden der demokratischen Öffentlichkeit – Professor Dr. Jochen Krautz (2015)

Vom Wiegen der Säue oder: KO für die Bildung – hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 9-10/ 2014, S. 26

"Wer keine Ahnung von Geschichte hat, dem hilft auch Wikipedia nicht weiter" – Wirtschaftswoche v. 13.10.2014

Bildungskatastrophe: Das große Zerstörungswerk der OECD – Wirtschaftswoche v. 13.10.2014

Kompetenzorientierung: Das Verschwinden des Wissens – Neue Zürcher Zeitung v. 15.9.2014

Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung – Die Irrtümer der Wissensgesellschaft

Matthias Burchardt: selbstregulierter Lerner (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 2/12)

und die Webseite der Gesellschaft für Bildung und Wissen, in der sich immer mehr Erziehungswissenschaftler zusammenschließen, um dem Tanz mancher Bildungspolitiker um das goldene Kalb der „Kompetenzen“ im Interesse guter Bildung entgegenzutreten:

Gesellschaft für Bildung und Wissen: http://bildung-wissen.eu

Nivellierung der Ansprüche – FAZ v. 13.10.2010

 

Weiterführende Informationen:

Kompetenzorientierung: Das Verschwinden des Wissens – Neue Zürcher Zeitung v. 15.9.2014

Grün-rote Pädagogik: Der Gesinnungslehrplan – FAZ v. 23.1.2014

WWL-Info-Mail v. 11.10.2013: "Kompetenz"-Vergleiche werden zum politischen Instrument und zum Wirtschaftsfaktor für beteiligte Institute

Der Testwahn der Bildungsforscher – Wirtschaftswoche v. 10.10.2013

WWL-Info-Mail v. 8.10.2013: "Vermessung von Kompetenzen": Millionenprojekt an der Bildung vorbei

Empirische Gewissheit gibt es nicht – FAZ v. 27.9.2013