S9 an Stadtteilschulen ist kein G9

Die in Hamburg durch die von Beust-Schill-Lange-Koalition beschlossene Verkürzung der Schulzeit an den Hamburger Gymnasien, das sogenannte "G8", führt wegen der verkürzten Lern- und Übungszeiten zu einer Verflachung der Bildungsinhalte, die während der Gymnasialzeit vermittelt werden können. Die oftmals zu hörende Forderung nach einer "Entrümpelung der Bildungspläne" und die Reduzierung der Bildungspläne unter Schulsenator Rabe auf bloße "Kompetenzorientierung" belegen diese sehr bedenkliche Entwicklung und sind gerade vor dem Hintergrund der von Fachleuten bereits als Gescheitert bezeichneten „Bologna-Reform“ des Hochschulwesens mit dem Wechsel von den früher international angesehenen Diplom-Studiengängen zu bloßen „Bachelor-“ und „Master-“Abschlüssen Zeichen einer bedenklichen Entwicklung im deutschen Bildungssystem. Eine solche Verflachung der Bildungsinhalte im G8-Gymnasium ist weder für die betroffenen Schülerinnen und Schüler gut, die im G8 einen geringeren Grad von echter Studierfähigkeit ("Allgemeine Hochschulreife") erlangen, noch für unsere Gesellschaft. Deutschland muss Bildungsgesellschaft bleiben. Langfristig werden wir unseren Platz in Europa und der Welt sowie unseren gesellschaftlichen Wohlstand mit der Tragfähigkeit der Sozialsysteme für die Schwächeren nur so behaupten können.

 

Die 9-stufige Stadtteilschule ist kein Ersatz für ein G9

Die Stadtteilschule ist durch die Änderung des Schulgesetzes unter der Schwarz-Grün 2010 als Gesamtschulform durch Auflösung der bisherigen H/R-Schulen (mit deren starken Realschulzweigen) und Gesamtschulen eingeführt worden und muss bereits ganz andere Schwerpunkte setzen, da sie neben der Umsetzung von „Inklusion“ vor allem Haupt- und Realschüler auf den ersten (Hauptschulabschluss) bzw. mittleren Schulabschluss (Realschulabschluss) vorzubereiten hat. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Hamburger Stadtteilschulen derzeit mit rechtswidriger Rückendeckung der Schulbehörde in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 davon absehen, in äußerer Differenzierung, d. h. in abschlussbezogenen Klassen oder Kursen, entsprechend der KMK-Vorgaben zu unterrichten (siehe dazu: WWL-Info-Mail v. 25.10.2012: Hamburg verletzt KMK-Vorgaben für äußere Differenzierung/Kurse in Stadtteilschulen). Der Unterricht in den Jahrgangsstufen 5-10 in den Stadtteilschulen ist damit derzeit an den betroffenen Stadtteilschulen in keiner Weise mit gymnasialer Vorbereitung auf die Oberstufe an den Gymnasien zu vergleichen. Die Schülerinnen und Schüler der Hamburger Gesamtschulen (jetzt: "Stadtteilschulen") hatten deshalb bereits in der Vergangenheit – noch ohne „Inklusion“ – am Ende der Jahrgangsstufe 10 gegenüber den Schülerinnen und Schülern an den Gymnasien bereits einen deutlichen Lernrückstand, den sie in der Oberstufe bis zum Abitur nicht mehr aufholen können.

 

Leistungsgefälle zwischen Gymnasien und Stadteilschulen

Die vom ehemaligen Staatsrat der ehemaligen Schulsenatorin Goetsch, Ulrich Vieluf, geleitete Lernausgangsuntersuchung LAU 13 aus dem Jahr 2006 ergab, dass das Leistungsniveau der Abiturienten an den Gesamtschulen in Mathe und Englisch zwei Jahre hinter dem der Gymnasien lag:

WELT v. 13.1.2006: Studie: Schlechtes Zeugnis für Gesamtschulen

Dieses Leistungsgefälle zwischen Gesamtschulen und Gymnasien ist im Sommer 2012 noch einmal für den Abiturjahrgang an den Stadtteilschulen (der allerdings noch in den aufwachsenden Gesamtschuljahrgängen unterrichtet worden ist) bestätigt worden: Die Abitur-Durchschnittsnoten lagen an den Stadtteilschulen nach der Drs. 20/4589 fast ausnahmslos und deutlich hinter den Hamburger Gymnasien:

Abiturvergleich Hamburger Schulen (sortiert)

Aktuell veranschaulicht als Ergebnis der Auswertung der Senatsantwort auf eine Schriftliche Kleine Anfrage Drs. 20/12790 der Hamburger Schulvergleich im Fach Mathematik die Differenz zwischen den Ergebnissen in den schriftlichen Abiturprüfungen im Vergleich zu den Vornoten im Fach Mathematik (erweitertes Anforderungsniveau) an den Stadtteilschulen einerseits und den Gymnasien andererseits:

Hamburger Abiturvergleich Mathematik 2014: Ergebnisse der schriftlichen Abiturprüfung im Vergleich zu Vornoten

Die Auswertung belegt erneut die grundsätzlich strengere Bewertung der schulischen Leistungen an den Hamburger Gymnasien. Wie großzügig in der Oberstufe an vielen Stadtteilschulen wohlwollend gute Vornoten in den Jahrgangsstufen 11-13 vergeben werden, zeigt sich daran, dass die Abweichungen zwischen guten Vornoten und tatsächlichen Leistungen in den schriftlichen Prüfungen bei fast allen Stadtteilschulen mehr als 2 Punkte ausmacht, bei manchen sogar mehr als 5 Punkte. Gleichzeitig bestätigt der Schulvergleich, dass das Abitur 2014 in Mathematik nicht etwa ein besonders schweres Abitur war: Denn in allein 14 Gymnasien wurde in der Abiturklausur ein Durchschnitt (!) von mehr als 10, teils sogar mehr als 11 Punkten erzieht. In diesen Gymnasien liegen auch die Vornoten teils (strenger) unter den Ergebnissen der schriftlichen Prüfung, ansonsten realistisch auf etwa gleichem Niveau wie die Abiturklausur. Hamburger Eltern können an der Tabelle also auch ablesen, in welchen Schulen den Schülerinnen und Schülern tatsächlich noch solide Mathematik-Kenntnisse vermittelt werden.

Interessant der Auswertung ist das Abschneiden des einen Kurses an der Stadtteilschule Bergstedt. In der Auswertung erscheint diese Schule mit drei ***, weil es dort neben dem einen Kurs mit mehr als 5 Teilnehmern (was Voraussetzung für die Aufnahme in die Auswertung gewesen ist), die die entsprechenden guten Punktzahlen erreicht haben (und eine um 1,6 Punkte zu gute Vornote) nach der Senatsantwort, Anlage 1, Seite 20, auch einen zweiten Kurs mit weniger als 5 Teilnehmern gab, der mit 9,4 Punkten vorbenotet war und in der Klausur mit nur 6 Punkten in der Abiturklausur abschnitt. Das Ergebnis in der Tabelle ist also bei Licht betrachtet nicht wirklich repräsentativ für die Stadtteilschule Bergstedt. Überhaupt fiel bei der Auswertung auf, dass sich viele Stadtteilschulen kleine Kurse in Mathematik im erweiterten Anforderungsniveau mit weniger als 5 Teilnehmern (=“***“) geleistet haben, in denen dennoch nur mäßige Ergebnisse erzielt wurden.

Welche Schulen bei den schriftlichen Abiturprüfungen 2014 insgesamt vorne gelegen haben, finden Sie im folgenden Schulvergleich:

Hamburger Abiturvergleich Mathematik 2014: Ergebnisse der schriftlichen  Abiturprüfung

Die Auswertung des Hamburger Schulvergleichs veranschaulicht, dass es in der Tat vor allem die gymnasialen Unterrichtsmethoden ab Klasse 5 sind, die die Schülerinnen und Schüler auf ein solides Abitur in Mathematik vorbereiten. Wenn die Schüler erst ab Klasse 11 in den Genuss der äußeren Differenzierung als Oberstufenkurs kommen, fehlen ihnen die Grundkenntnisse. Das können sie in den drei Jahren nicht mehr aufholen. Wenn die Stadtteilschulen hier anders als durch ein Verschenken wohlwollend guter Vornoten aufholen und zu realistischen guten Ergebnissen kommen wollen, müssen sie endlich mit einer soliden Differenzierung in Hauptschul- und Realschul- sowie Gymnasialzweige beginnen.

Eltern, die für ihr Kind ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium anstreben, können ihr Kind angesichts der Ergebnisse des Hamburger Abiturvergleichs 2014 nur an einem Gymnasium anmelden. Die Stadtteilschulen werden gegenwärtig insbesondere mangels ausreichend differenzierter Unterrichtsorganisation und -formen ihrer Verantwortung für eine anspruchsvolle mathematische Ausbildung nicht gerecht.

Das hiernach von den Stadtteilschulen angebotene „S6 + 3“ oder "S9" ist mit einem echten G9-Angebot nicht zu vergleichen.

 

Gefährdung der Schulform Stadtteilschule kommt von innen, nicht von den Gymnasien

In der Diskussion um die Einführung eines Wahlrechts zwischen G8 und G9 wird von Befürwortern des verbindlichen G8 gelegentlich das Argument verwendet, das G9 stelle eine Bedrohung der Schulform Stadtteilschule dar oder "gefährde den Erfolg der Schulform Stadtteilschule". Dieses Argument ist moralisch fragwürdig, da es versucht, Schulformen gegeneinander "auszuspielen", aber auch in der Sache nur ein Schein-Argument:

Die Stadtteilschule ist nicht ausgezogen, ein Hamburger "Abitur für alle" einzuführen, und wird deshalb durch ein G9 auch nicht "gefährdet". Die politische Begründung für die Reduzierung des Drei-Säulen-Modells mit Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien auf nur noch zwei Säulen mit Stadtteilschulen und Gymnasien war – jedenfalls offiziell – in erster Linie das Bemühen um eine Aufwertung derjenigen Schulen, die solide Haupt- und Realschulabschlüsse vermitteln sollen. Die zusätzliche Möglichkeit, dass besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler dort ggf. auch ohne Schulwechsel das Abitur machen können, war nicht der Anlass der Einführung von Stadtteilschulen, sondern eher ein Nebeneffekt, um die bis dahin selbständigen Gesamtschulen mit unter das Dach der Schulform Stadtteilschule nehmen zu können.

Die aktuellen Probleme der Schulform Stadtteilschule sind "hausgemacht" und kommen von innen bzw. aus der Schulbehörde: Denn in ihrer praktischen Umsetzung leidet die Attraktivität der Hamburger Stadtteilschulen seit ihrer Einführung im Jahr 2010 erstens unter dem Fehlen einer ausreichenden äußeren Differenzierung in Klassen und Kurse, zweitens unter der mit den "kompetenzorientierten Bildungsplänen eingeführten reduzierten Fachlichkeit des Unterrichts und drittens unter der unzureichenden Planung und Ausstattung der Inklusionsklassen.

Allerdings: Die Stadtteilschulen haben auch einen anderen Bildungsauftrag als ein "Abitur Light", nämlich in erster Linie: solide Haupt- und Realschulabschlüsse. Wer deshalb heute diese Schulabschlüsse mit dem Stigma einer angeblichen "Restschule" diskreditiert oder wer, wie Schulsenator Ties Rabe, mit der Abschaffung der externen Zweitgutachten im Abitur ab 2014 das "Abitur Light" faktisch einführt, oder wer ein angebliches "Scheitern der Stadtteilschule" an die Wand malt, nur weil dort zu wenig Abiture erworben werden, bereitet im Grunde (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) den Boden für die anschließende "Schule für alle".

Die Stadtteilschulen werden als Schulform nicht von den Gymnasien bedroht, sondern von denen, die die Stadtteilschulen inhaltlich schlecht ausgestalten (Stichworte: fehlende äußere Differenzierung, geringe Fachlichkeit, schlechte Planung und Ausstattung der Inklusion) oder schlecht reden (Stichtwort: angebliche "Restschule").

Es spricht Vieles dafür, dass mancher Kritiker der Schulform Stadtteilschule deren „Scheitern“ als Zwischenschritt zur „Schule für alle“ in Kauf nimmt:

So votierten die Abgeordneten der SPD und der GAL/GRÜNEN in der Enquete-Kommission offiziell im Abschlussbericht ausdrücklich gleich einen Schritt weiter: „Ziel ist eine Schule für alle“ (a. a. O., S. 84):

Votum SPD und GAL/GRÜNE aus dem Bericht der Enquete-Kommission vom 16.3.2007 (Drs. 18/6000, a. a. O., S. 84)

 

Weiterführende Informationen:

 

Hamburger Abendblatt v. 8.9.2014: Scheuerl fordert Gymnasialzweige für Stadtteilschulen

WWL-Info-Mail v. 4.9.2014: Mathe- und Physik-Schwächen an den Stadtteilschulen

WWL-Info-Mail v. 30.7.2014: Abitur-Ranking 2014: Gymnasien trotz strengerer Benotung weiter klar vor Gesamt- und Stadtteilschulen

Hamburger Abendblatt v. 9.7.2014: Hamburgs Gymnasien zensieren strenger als Stadtteilschulen

WWL-Info-Mail v. 21.10.2013: Abiturvergleich: KESS-12-Studienleiter Vieluf fällt Senator Rabe in den Rücken

WWL-Info-Mail v. 17.10.2013: G8-Turbo-Abi-Light: Senator Rabe hat Hamburg über Ergebnisse des G8/G9-Vergleichs getäuscht

WWL-Info-Mail v. 16.10.2013: Hamburgs wundersame Abiturientenvermehrung – und jetzt noch das Rabe-Abitur-Light 2014

WWL-Info-Mail v. 3.9.2013: KESS 13: Rabe steuert Hamburg zum 2-Klassen-Abitur mit einem "Rabe-Abitur-light" an den Stadtteilschulen

WWL-Info-Mail v. 2.9.2013: KESS 13-Ergebnisse: "Alarmstufe ROT" für Hamburger Stadtteilschulen

WWL-Info-Mail v. 2.4.2013: Stadtteilschule – Geburtsfehler und Perspektiven einer Schulform

WWL-Info-Mail v. 18.1.2013: Schulausschuss: Senator Rabe verabschiedet sich vom Modell erfolgreicher Stadtteilschulen