Schulform „Stadtteilschule“: Gesamtschule mit parteipolitischen Webfehlern

Die von den Parteien CDU und GRÜNE, SPD und LINKE mit Wirkung vom Jahr 2010 in Hamburg "aufwachsend" ins Leben gerufene Schulform "Stadtteilschule" steht seit ihrer Gründung in der Diskussion. Die Vorbereitung dieser Schulform fiel bereits in die Amtszeit der CDU-Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig unter der Alleinregierung der CDU (2004-2008). Fest steht, dass es an den Hamburger Stadtteilschulen zwar wie an allen Schulen phantastische und hoch engagierte Lehrkräfte und tolle Schülerinnen und Schüler gibt. Dennoch sind die Hamburger Stadtteilschulen ebenso wie die nahezu zeitgleich als parteipolitisch motivierte Schulformen in anderen Bundesländern ins Leben gerufenen Gesamtschulformen der "Gemeinschaftsschule" in Baden-Württemberg (unter GRÜNE/SPD) und der "Sekundarschule" in Nordrhein-Westfalen (unter SPD/GRÜNE unter Mitwirkung der CDU) am Ende nichts anderes als Gesamtschulen mit parteipolitischen Webfehlern.

Parteipolitische Belastung

Die in Hamburg zusammen mit den damaligen "Primarschul"-Plänen 2009 von der Schwarz-Grün-Koalition (2008-2010) mit Unterstützung der SPD und der LINKEN beschlossene Schulform „Stadtteilschule“ hatte von Anfang an einen schweren parteipolitisch gezeichneten Webfehler: Nachdem sich SPD und GRÜNE schon 2007 für die Auflösung der Gymnasien und die Einheitsschulform "Schule für alle" ausgesprochen hatten (Drs. 18/6000, a. a. O., S. 84) und der spätere Schulsenator Ties Rabe (SPD) dies als schulpolitisches Fernziel der SPD im Jahr 2009 noch einmal in einem Interview ausdrücklich bekräftigt hatte (Interview v. 10.2.2009), war die im Herbst 2009 mit dem damaligen Primarschul-Paketgesetz beschlossene und aufwachsend ab 2010 startende Schulform „Stadtteilschule“ von Anfang an nichts anderes als die Schulform Gesamtschule, in die die beteiligten Parteien im gleichen Atemzug und ohne Planung oder Vorbereitung auch die damals in Hamburg noch bestehenden H/R-Schulen, also Schulen mit einem Hauptschul- und einem Realschulzweig umgewandelt haben.

Die Parteien SPD, CDU, GRÜNE und LINKE haben damit 2010 eine Schulform ausgeweitet und als sog. „zweite Säule“ neben die Gymnasien gestellt, die bis dahin als Gesamtschule bei den PISA-Tests unter den 15.jährigen Schülerinnen und Schülern quer durch alle getesteten Fächer stets deutlich schlechter abgeschnitten hatte als die Realschulen. 15-jährige Gesamtschüler klagen schon damals gegenüber ihren 15-jährigen Mitschülern in den Realschulen um beinahe ein Lernjahr zurück.

Systemische Belastung

Seither ist der Schulform Stadtteilschule und den engagierten Lehrkräften, die in den Hamburger Stadtteilschulen unterrichten, von der Schulbehörde, die seit 2011 von SPD-Schulsenator Ties Rabe unter Mitwirkung einer ganzen Reihe von leitenden Beamten mit grünem Parteibuch geführt wird, das Leben schwer gemacht worden. So wird nach Angaben von Lehrkräften aus den Stadtteilschulen über die Schulaufsicht Druck auf die Schulleitungen ausgeübt, trotz oft gegenteiliger Voten in den Stadtteilschulen möglichst weitgehend auf eine äußere Differenzierung und Förderung der Schülerinnen und Schüler in abschlussbezogene Klassen und Kurse zu verzichten. Erschwerend hinzu kommt die Umsteuerung von Anmeldungen von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Rahmen der sog. Inklusion in die Stadtteilschulen. Dort müssen die betroffenen Inklusions-Kinder dann jedoch – anders als an den Förderschulen – weitgehend ohne zusätzliche sonderpädagogische Förderung auskommen und den allgemeinen Unterricht in den hierdurch bedingt extrem weit gefächerten und extrem heterogenen Lerngruppen folgen. Ohne Doppelbesetzungen in den Klassen bedeutet das, dass zwar in weniger anspruchsvollen Fächern wie etwa Kunst oder Sport ein Miteinander möglich ist, in kognitiv geprägten Fächern wie etwa Mathematik, Fremdsprachen oder Naturwissenschaften spätestens ab Jahrgangsstufe 8 ein wirklich leistungsfördernder Unterricht mit einem produktiven und anspruchsvollen gemeinsamen Unterrichtsgespräch nicht mehr möglich ist. Die resignierende pädagogische Antwort auf eine derartige Heterogenität lautet „individualisiertes Lernen“:

WELT v. 26.12.2012: Individuelles Lernen: Die Einheitsschule ist pädagogische Romantik

Individuelle Förderung: Der große Bluff – PROFIL, Heft 12/2013 (Gastbeitrag von Professor Dr. Klein, Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Schülerinnen und Schüler werden angehalten, mit individuellen Arbeitsprogrammen auf unterschiedlichen Leistungsniveaus für sich zu arbeiten. Statt „gemeinsames Lernen“ steht also „einsames Lernen“ im gleichen Klassenraum auf dem Programm. Der Leistungsanspruch bleibt dabei mangels Eigenmotivation und auf Grund der Unruhe im Raum auf der Strecke.

Eine eindringliche Zusammenfassung der Perfidität des Konzepts des „individualisierten Lernens“ liefert der Hamburger Pädagoge Dr. Rainer von Kügelgen in:

Kügelgen, Dr. Rainer von in: hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 1-2/2012: Individualisiertes Lernen – Hilflos gegenüber dem Machtapparat

Anteil von Schülern mit Gymnasialempfehlung

Für die Qualität des Unterrichts an den Hamburger „Stadtteilschulen“, die 2010 als Ergebnis der von Schwarz-Grün beschlossenen Auflösung der damals starken Realschulen und deren Verschmelzung mit den bei PISA im Vergleich zu den Realschulen deutlich schwächeren Gesamtschulen und Hauptschulen gegründet wurden, ist es also völlig unerheblich, ob dort in den Einheitslerngruppen neben ihren Mitschülern auch Schüler mit Gymnasialempfehlung "individualisiert" vor sich hin lernen und versuchen, sich "kompetenzorientiert" selbst etwas beizubringen oder aus Arbeitsblättern zu entnehmen.

Für die Qualität der Stadtteilschulen ist es auch völlig unerheblich, ob und wie viele Schülerinnen und Schüler an einer Stadtteilschule das Abitur erlangen. Denn das Abitur an Stadtteilschulen wird an den Stadtteilschulen unter deutlich weniger strengen Voraussetzungen erlangt als an den Hamburger Gymnasien. Verantwortlich dafür sind die günstigere und weniger strenge Notenvergabe in der gymnasialen Oberstufe der Stadtteilschulen (die durchweg bereits für das Abitur zählt) und die von Senator Rabe veranlasste Abschaffung der verbindlichen neutralen und anonymen externen Zweitkorrekturen der Abiturklausuren seit dem Abitur 2014.

Entscheidend für die Bewertung der Qualität der Stadtteilschulen ist vielmehr, wie viele wirklich "wertige" Schulabschlüsse, darunter insbesondere gute Haupt- und Realschulabschlüsse die Stadtteilschulen ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln, die den Namen dieser Abschlüsse auch tatsächlich verdienen und den Absolventen eine echte Ausbildungsfähigkeit vermitteln. Letzteres ist leider keine Selbstverständlichkeit an allen Hambrger Stadtteilschulen.

Einige Einblicke in die Realität des Lebens in der Schulform Stadtteilschule und die Defizite dieser Schulform gibt auch der folgende TV-Beitrag:

Das Erste – Panorama v. 22.8.2013: Lehrer am Limit

Den Stadtteilschulen ist deshalb auch weder mit irreführenden Werbekampagnen noch mit geschönten Abiturquoten (auf Grund der 2014 unter Senator Rabe abgeschafften externen Zweitkorrekturen der Abiturklausuren) geholfen. Auch eine (Zwangs-)Verteilung von Schülerinnen und Schülern mit Gymnasialempfehlung auf die Stadtteilschulen durch die Behörde würde den Webfehler der Schulform Stadtteilschule nicht abmildern. Im Gegenteil: Das unsinnige Ziel, die Stadtteilschulen durch eine Vermischung von Schülerinnen und Schülern ganz unterschiedlicher Leistungsfähigkeiten und -bereitschaften zu zweiten Gymnasien zu stilisieren, liefe nur darauf hinaus, die zwei Schulformen langfristig aufzulösen und die aktuell allein noch leistungsfähigen Gymnasien in Hamburg abzuschaffen.

Weniger streng: Abiturnotengebung an der Stadtteilschule

Ungeachtet der systemischen Schwächen der Schulform kristallisiert sich nach und nach ein Wettbewerbsvorteil der Schulform Stadtteilschule heraus: Die bisherigen Erfahrungen mit der neuen Gesamtschulform „Stadtteilschule“ sprechen dafür, dass es an der Stadtteilschule deutlich leichter ist, ein Hamburger Abitur zu erlangen bzw. bei gleicher Leistung während der gymnasialen Oberstufe an der Stadtteilschule im Vergleich zum Gymnasium einen insgesamt besseren Notendurchschnitt im Abitur zu erlangen. Denn nicht nur im Abitur, sondern auch bei den für die Gesamtnote entscheidenden Vornoten während der Studienstufe ist an den Stadtteilschulen tendenziell eine deutlich weniger strenge Notengebung festzustellen (näher dazu: Die Studienstufe an allgemeinbildenden Schulen). Das kann sich auszahlen. Für manche Schülerinnen und Schüler bzw. deren Eltern stellt gerade dies einen entscheidenden Faktor bei der Wahl der Schulform und der Entscheidung für einen möglichen Schulformwechsel zur Oberstufe dar. Schon vor diesem Hintergrund, verbietet sich ein Vergleich der Schulformen Stadtteilschule und Gymnasium über den arithmetischen Abitur-"Faktor" von vornherein.

Das Hamburger Abendblatt hat das im Juli 2014 unter Bezugnahme auf die Informationen aus der WWL-Info-Mail vom 7.7.2014 anschaulich dargestellt:

Hamburgs Gymnasien zensieren strenger als Stadtteilschulen – Hamburger Abendblatt v. 9.7.2014

WWL-Info-Mail v. 7.7.2014: Hamburger Abitur auf schiefer Ebene: Viele Stadtteilschulen vergeben großzügig gute Semesternoten (Vornoten)

Anlagen: Abitur 2013: Notendifferenzen Mathematik + Abitur 2013: Notendifferenzen Englisch + Abitur 2013: Notendifferenzen Deutsch

Zusätzlich verstärkt werden diese Effekte durch die von Schulsenator Rabe seit dem Abitur 2014 veranlasste Abschaffung der verbindlichen externen und neutralen Zweitkorrektur im Abitur und die damit einhergehende Neigung von Lehrkräften zu wohlwollenden Notengebungen an den Stadtteilschulen auch im Abitur. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dabei ist den Lehrkräften an den Stadtteilschulen in keiner Weise etwas Unlauteres vorzuwerfen. Den Lehrkräften, die bis dahin an Gesamtschulen oder in H/R-Schulen bis Jahrgangsstufe 10 unterrichtet haben, fehlt schlicht die gymnasiale Vergleichsgruppe – eine Vergleichsgruppe, die den KESS-Lernstandserhebungen zufolge am Ende von Jahrgangstufe 10 rund ein Jahr Lernvorsprung hat.

Maßnahmen zur Stärkung der Stadtteilschulen

Eine Stärkung der Stadtteilschulen und entscheidende Steigerungen der Qualität des Unterrichts an den Stadtteilschulen wären nur und erst dann zu erwarten, wenn Schulsenator Rabe und die Schulbehörde ihre Blockadehaltung aufgeben und u. a. die folgenden Maßnahmen umsetzen würden:

1. Ersetzen des Prinzips sog. "Kompetenzorientierung" durch Leistungsorientierung und das Ziel fachlich vernetzten, vertieften und nachhaltigen Wissens

2. Wiedereinführung der konsequent differenzierenden Förderung der Schülerinnen und Schüler an den Stadtteilschulen in abschlussbezogenen Klassen und Kursen (sog. äußere Differenzierung)

3. Wiedereinführung der Möglichkeit des Jahrgangswiederholens ("Sitzenbleiben") als pädagogische Maßnahme

4. konsequente Doppelbesetzung der Inklusions-Klassen und -Lerngruppen mit Lehrkraft und Sonderpädagogen

5. Besinnung und Konzentration auf den eigentlichen Bildungsauftrag der Stadtteilschulen: gute und ihrem Namen gerecht werdende Haupt- und Realschulabschlüsse, die den Schülerinnen und Schülern eine echte Ausbildungsfähigkeit mit auf den Weg ins Leben geben.

Einige Einblicke in die Realität des Lebens in der Schulform Stadtteilschule und die Defizite dieser Schulform gibt auch der folgende TV-Beitrag:

Das Erste – Panorama v. 22.8.2013: Lehrer am Limit

Den Stadtteilschulen ist deshalb auch weder mit irreführenden Werbekampagnen noch mit geschönten Abiturquoten (auf Grund der 2014 unter Senator Rabe abgeschafften externen Zweitkorrekturen der Abiturklausuren) geholfen. Auch eine (Zwangs-)Verteilung von Schülerinnen und Schülern mit Gymnasialempfehlung auf die Stadtteilschulen durch die Behörde würde den Webfehler der Schulform Stadtteilschule nicht abmildern. Im Gegenteil: Das unsinnige Ziel, die Stadtteilschulen durch eine Vermischung von Schülerinnen und Schülern ganz unterschiedlicher Leistungsfähigkeiten und -bereitschaften zu zweiten Gymnasien zu stilisieren, liefe nur darauf hinaus, die zwei Schulformen langfristig aufzulösen und die aktuell allein noch leistungsfähigen Gymnasien in Hamburg abzuschaffen.

 

Bildungsauftrag: Haupt- und Realschulabschlüsse

Hamburgs Stadtteilschulen sollten sich auf ihren eigentlichen Bildungsauftrag konzentrieren: gute und ihrem Namen gerecht werdende Haupt- und Realschulabschlüsse, die den Schülern eine echte Ausbildungsfähigkeit mit auf dem Weg ins Leben geben. Gymnasiale Oberstufen und die Weiterfühung zu einem möglichen Abitur können immer eine Option für Stadtteilschulen sein, wenn sie über eine entsprechend leistungsfähige und leistungsbereite Schülerschaft verfügen, sind aber keine Pflicht und sollten deshalb auch weder Gegenstand des Hauptaugenmerks noch Kriterium für die Bewertung von Stadttteilschulen sein.

 

Weiterführende Informationen

WWL-Info-Mail v. 13.9.2016: : Kermit-Studie für 8. Klassen offenbart: Schulbehörde und Stadtteilschulen verletzen ihren gesetzlichen Bildungsauftrag

WWL-Info-Mail v. 6.7.2016: Rabe-Abitur-Light: Mathematik-Abitur 2016 bestätigt Desaster der reduzierten Leistungsanforderungen

Bürgerschaft: Heftiger Polit-Zoff um Stadtteilschulen – Bild v. 28.4.2016

Stadtteilschulen: Hier ist Unterricht kaum möglich – Hamburger Abendblatt v. 7.4.2016

WWL-Info-Mail v. 7.3.2016: Gymnasien nehmen Bildungsauftrag weiter ernst – Schulbehörde räumt Gefälligkeits-Schulformempfehlungen ein

WWL-Info-Mail v. 3.2.2016: Hoher Anteil fachfremden Unterrichts: Offenbarungseid der Stadtteilschulen gegenüber ihrem Bildungsauftrag

WWL-Info-Mail v. 2.3.2015: 5 Jahre Mogel-Schulfrieden – eine Bilanz

30.7.2014: Abitur-Ranking 2014: Gymnasien trotz strengerer Benotung weiter klar vor Gesamt- und Stadtteilschulen

Hamburger Abendblatt v. 9.7.2014: Hamburgs Gymnasien zensieren strenger als Stadtteilschulen

WWL-Info-Mail v. 7.7.2014: Hamburger Abitur auf schiefer Ebene: Viele Stadtteilschulen vergeben großzügig gute Semesternoten (Vornoten) + Anlagen: Abitur 2013: Notendifferenzen Mathematik + Abitur 2013: Notendifferenzen EnglischAbitur 2013: Notendifferenzen Deutsch

WWL-Sonderausgabe v. 25.4.2014: Gesetzliche Bildungsaufträge der weiterführenden Schulen in Hamburg

WWL-Info-Mail v. 16.4.2014: ZEIT: Stadtteilschule – Pfusch am Kind

WWL-Info-Mail v. 12.2.2014: Hamburg: Eltern stimmen mit den Füßen gegen die Einheitsschule ab – stark steigende Anmeldezahlen belasten Gymnasien

WWL-Info-Mail v. 13.1.2014: Hamburger Abiturvergleich – Kern-Bildungsauftrag der Stadtteilschulen: gute Haupt- und Realschulabschlüsse

WWL-Info-Mail v. 19.11.2013: Rabe-Vertraute und Nord-SPD bekennen sich zur Einheitsschule und gegen das Gymnasium

WWL-Info-Mail v. 2.9.2013: KESS 13-Ergebnisse: "Alarmstufe ROT" für Hamburger Stadtteilschulen

WWL-Info-Mail v. 2.4.2013: Stadtteilschule – Geburtsfehler und Perspektiven einer Schulform

WWL-Info-Mail v. 26.10.2012: Rabe-Verordnung zum Unterricht an Stadtteilschulen ist wegen Verletzung des Schulgesetzes nichtig

WWL-Info-Mail v. 25.10.2012: Hamburg verletzt KMK-Vorgaben für äußere Differenzierung

FAZ v. 9.10.2012: „Möglichst viele Schüler sollen das Abitur bestehen“

WWL-Info-Mail v. 10.9.2012: Drohende Verschlechterung der Schulabbrecher-Statistik – Rabe kündigt Handsteuerung an

WELT v. 13.1.2006: Schlechtes Zeugnis für Gesamtschulen